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„Es ist ein Wunder, dass die Koalition überhaupt noch funktioniert“

in -Letten-Forum- 07.09.2009 20:13
von lette2000 | 6 Beiträge | 6 Punkte

Lettlands Premier Valdis Dombrovskis über schmerzhafte Auflagen für Hilfskredite und die Grenzen von Einsparungen.


Riga. Für Lettlands Premier Valdis Dombrovskis ist die Freigabe einer weiteren Teilzahlung des Kredits vom Internationalen Währungsfonds ein positives Signal auf internationaler Ebene. Trotz rigoroser Sparmaßnahmen gepaart mit unpopulären Reformen unter dem Druck der internationalen Kreditgeber sieht der 38-jährige Regierungschef Licht am Ende des dunklen lettischen Wirtschaftstunnels. Ende des Vorjahres wurde Lettland ein 7,5-Mrd.-Euro-Überbrückungskredit mit Auszahlung von 2009 bis 2011 eingeräumt. Kreditgeber sind die EU-Kommission (3,1 Mrd. Euro), der Internationale Währungsfonds IWF (1,7 Mrd. Euro), die nordischen Länder Finnland, Schweden, Estland, Dänemark, Norwegen (1,9 Mrd. Euro), die EBRD gemeinsam mit Tschechien und Polen (400 Mio. Euro) sowie die Weltbank (400 Mio. Euro).
„Die Presse“: Der IWF hat Ende August eine zweite Kredit-Tranche von 200 Mio. Euro freigegeben. War das die Rettung vor dem viel zitierten „Bankrott“ des Staates Lettland?

Valdis Dombrovskis: Der wichtigste Beitrag zur Gewährleistung der finanziellen Stabilität Lettlands waren die 1,2 Mrd. Euro, die wir im Juli von der EU-Kommission erhalten haben. Die IWF-Entscheidung erfolgte in einer nicht so kritischen Phase. Aber das Geld benötigen wir auf jeden Fall, rund 150 Mio. Euro zur Abdeckung des Budgetdefizits, den Rest für die Stabilisierung des Finanzsektors.



Wurde Lettland nun an IWF und EU verpfändet?

Dombrovskis: Die Basis für die Kredite bilden die nach Regierungsbeschluss verfasste Absichtserklärung mit dem IWF und das Memorandum of Understanding mit der EU-Kommission sowie das im Juni vom Parlament beschlossene Wirtschaftsstabilisierungs- und Wiederbelebungsprogramm. Diese Dokumente sehen keinerlei Pfändung von Staatseigentum vor. Die Rückzahlungsmodalitäten wurden mit jedem Kreditgeber einzeln ausverhandelt und können jeweils den aktuellen finanziellen Möglichkeiten Lettlands angepasst werden. Auch wenn der gesamte 7,5-Mrd.-Euro-Kredit gebraucht werden sollte, steigt die Schuldenlast des öffentlichen Haushalts nicht über 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), was unter der Maastricht-Obergrenze von 60 Prozent liegt und auch deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 66 Prozent.



Mit welchen konkreten Auflagen der internationalen Kreditgeber hat Lettland besonders zu kämpfen?

Dombrovskis: Wie 2009 müssen wir auch im nächsten Jahr 710 Mio. Euro einsparen, entweder durch Ausgabensenkung oder durch Steuererhöhung. Das bedeutet einen relativ großen Druck, auch wenn es keine Anweisungen für konkrete Kürzungen gibt. Nach allen rigorosen Maßnahmen liegt das Haushaltsdefizit heuer bei zehn Prozent des BIP, für nächstes Jahr haben wir eine Vereinbarung mit der EU für 8,5 Prozent. Irland oder Großbritannien haben zwar größere Haushaltsdefizite mit kleineren Rezessionen, aber sie können diese selbst finanzieren. Lettland kann das Defizit nicht aus dem Markt finanzieren und ist vom Hilfskredit abhängig. Die Mehrwertsteuererhöhung von 18 auf 21 Prozent zu Jahresbeginn war nicht erfolgreich: Sie führte zu einer deutlichen Verschlechterung der Steuerzahlungsdisziplin und brachte so eine deutliche Verringerung der Steuereinnahmen. Momentan gibt es große Diskussionen um die geplante Einführung der Immobiliensteuer, insbesondere um die Besteuerung von Wohnflächen.



30 Prozent Lohnkürzung, zehn Prozent Pensionssenkung, Schul- und Spitalsschließungen – wie viele Einsparungen kann die Bevölkerung noch (v)ertragen?

Dombrovskis: Wir müssen eine Balance finden zwischen den IWF- und EU-Auflagen und den Grenzen der dafür notwendigen Maßnahmen, um den sozialen Frieden zu gewährleisten. Innerhalb weniger Monate gab es im öffentlichen Dienst Lohnkürzungen um durchschnittlich ein Drittel, für Besserverdienende noch mehr, zudem zahlreiche Kündigungen. Ich glaube nicht, dass wir noch viel weiter gehen können. Bei Spitäler- und Schulschließungen geht es nicht nur um finanzielle Einsparungen. Der seit über zehn Jahren bestehende – unpopuläre – Plan für die Reduzierung der Anzahl der Spitäler in ganz Lettland von 59 auf 24 wurde nie umgesetzt. Das Gleiche gilt für das Schließen von Schulen. In den nächsten fünf Jahren wird die Zahl der Schulkinder um etwa 35.000 abnehmen. Schon in den vergangenen Jahren waren viele Schulen halb leer. Jetzt müssen wir diese Reformen sehr rasch – manchmal zu schnell – umsetzen. So wurden in diesem Jahr etwa 100 Schulen geschlossen.



Wird es zu einer Abwertung des Lats kommen?

Dombrovskis: Die lettische Regierung und die internationalen Kreditgeber anerkennen einstimmig die feste Bindung des Lats an den Euro. In allen Abkommen wird der fixe Umrechnungskurs des Lats als Fundament einer stabilen Geldpolitik genannt. Zudem hat die Regierung die schnellstmögliche Euro-Übernahme, nicht später als 2014, als strategisches Ziel festgeschrieben. Das ursprünglich anvisierte Datum 2012/2013 ist nicht realistisch.



Warum sollen internationale Unternehmen – trotz Bankrott-Image– nach Lettland kommen?

Dombrovskis: Es gibt auch positive Anzeichen: Lag das Leistungsbilanzdefizit 2007 bei 25 Prozent des BIP, so haben wir heute eine positive Leistungsbilanz. Insbesondere der Transport- und Logistiksektor sowie der Export liegen über den Erwartungen. Ein internationaler Vertrauensbeweis liegt auch darin, dass erstmals seit April des Vorjahres Lettland nun wieder einen, wenn auch kleinen, Bond über 280.000 Euro platzieren konnte. Nach Daten des Stabilisierungsprogrammes haben wir den Tiefstand der Rezession erreicht und erwarten ein erstes Wirtschaftswachstum im vierten Quartal des kommenden Jahres.



Die Fünf-Parteien-Koalition macht das Regieren ja nicht gerade leicht. Haben Sie deshalb eine Union der rechten Parteien initiiert?

Dombrovskis: Es ist ein Wunder, dass die Koalition bei den tief greifenden Entscheidungen überhaupt noch funktioniert. Lettland hat zu viele Parteien, das politische Spektrum ist zu sehr gespalten. Die drei Parteien Neue Ära, Bürgerliche Union und Gesellschaft für andere Politik haben sich zu einer Union zusammengeschlossen und kandidieren auf einer gemeinsamen Liste für die nächste Parlamentswahl im Oktober 2010.

Zur Person

■Valdis Dombrovskis wechselte vor knapp einem halbem Jahr vom Europaparlament in das Amt des Premierministers, nachdem sein Vorgänger krisenbedingt zurückgetreten war.

■ Der pragmatische Physiker, Elektrotechniker und Wirtschaftswissenschaftler war von 1998 bis 2002 Analytiker und Chefökonom der Lettischen Nationalbank und von 2002 bis 2004 lettischer Finanzminister.

Der heute 38-Jährige fungierte 2002 als Gründungsmitglied der konservativ-rechten Partei Jaunais Laiks/Neue Ära, der er bis heute angehört.


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