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Auch Abstauben will gekonnt sein

in -Letten-Forum- 06.04.2010 20:33
von lette118 | 45 Beiträge | 49 Punkte

Von Alexander Gauland 3. April 2010, 04:00 Uhr

Zum 80. Geburtstag des "Kanzlers der Einheit" fragen zwei Biografien nach der Bedeutung Helmut Kohls

Es ist wohl eher den runden Daten - Helmut Kohl wird achtzig und die Wiedervereinigung zwanzig - als einer geschichtsaufklärenden Notwendigkeit geschuldet, dass sich gleich zwei Biografien des Kanzlers der Einheit um die Gunst der Leser bemühen. Für beide gilt cum grano salis ein berühmter Romantitel: "Im Westen nicht Neues". Man tut den vier Autoren - Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich auf der einen und Heribert Schwan und Rolf Steininger auf der anderen Seite - wohl nicht unrecht, wenn man feststellt, dass unser Bild des Altkanzlers durch sie nicht verändert und kaum erweitert wird. Denn längst ist ja alles auf dem Markt - die Erinnerungen der Beteiligten, soweit sie Geschichte geschrieben haben, von Gorbatschow bis Teltschik und Thatcher wie alle möglichen wissenschaftlichen und Aktenpublikationen.
Kaum eine Ära ist so gut ausgeleuchtet wie die der Kanzlerschaft Helmut Kohls, und die Urteile weichen auch kaum noch voneinander ab. Für die meisten professionellen Beobachter, seine Bewunderer wie seine vielen innerparteilichen und ideologischen Gegner zerfällt das Wirken Kohls in drei Abschnitte. Am Anfang steht der konsequente Partei- und Machtpolitiker, der seinen Aufstieg an die Spitze von Partei und Staat gegen alle Widerstände durchsetzt, der von seinen intellektuellen Gegnern wie seinem innerparteilichen Konkurrenten Franz-Josef Strauß fast immer unterschätzt wird. Doch Kohl ist meistens näher an den Menschen, die ihn wählen sollen als seine vielen Verächter und Kritiker. Ob Augstein, Bohrer, Karasek oder Strauß - alle Einwände gegen den Pfälzer Kleinbürger verkennen, dass seine Art zu denken, zu reden und zu handeln mehrheitsfähig in einem Land war, das nach der Katastrophe von 1945 keine natürliche Führungselite mehr kannte und deshalb Kohl folgte, weil er dem Volk genauer aufs Maul schaute als seine Mitbewerber und die intellektuellen Besserwisser. Und so vollzieht sich der Aufstieg des Pfälzers - mit ein wenig Glück - ganz folgerichtig. Er ist der beste Taktiker der Macht, im Grunde der beste Parteipolitiker, den das Land je hatte. Dass er mit dieser Macht nicht viel anzufangen wusste, dass aus der geistig-moralischen Wende nichts wurde, hätte ihn bald eingeholt, wenn er nicht weltgeschichtliches Glück gehabt hätte.
Natürlich war und ist der Hanseat Helmut Schmidt brillanter, aber er war eben zum falschen Zeitpunkt Bundeskanzler, er musste zusammenhalten und Löcher stopfen, während Kohl gestalten konnte.

Und da sind wir beim nächsten Abschnitt. Man mag mit Erhard Eppler meinen, dass Kohl mit der Wiedervereinigung ein Abstaubertor geschossen habe, in dem Sinne, dass er für die Umstände und den Zeitpunkt nichts konnte. Aber er hat den Ball sauber, passgenau und gegen erhebliche Widerstände ins Tor gebracht und damit die große nationale Aufgabe vollendet, zu der Konrad Adenauer und Willy Brandt schon wichtige Bausteine herbeigeschleppt hatten. Er hätte das natürlich "versemmeln" können, aber er hat in den Wochen und Monaten nach dem Fall der Mauer immer das Richtige getan, in Dresden vor der Frauenkirche wie auf dem diplomatischen Parkett mit Bush senior und Gorbatschow. Es ist schon so, wie es damals sein ursprünglicher Verächter Rudolf Augstein formulierte: "Den Staatsmann Kohl wird man nicht mehr von der Landkarte tilgen können". Dahinter beginnt der dritte Lebens- und Wirkungsabschnitt Kohls. Nun ist er wieder der strippenziehende Machtpolitiker. Doch während zu Beginn seiner Laufbahn das Reformerisch-Vorwärtsdrängende zum Beispiel in Rheinland-Pfalz mit den menschlichen Schwächen versöhnt, drängen sich diese jetzt wieder in den Vordergrund, da Großes nicht mehr ansteht und mühsame Reformen nicht des Kanzlers Sache sind. Und so bleiben seine Unaufrichtigkeiten, seine Schäbigkeiten gegenüber Wolfgang Schäuble, sein vermeintliches Ehrenwort in der Parteispendenaffäre und das Aussitzen der Probleme im Gedächtnis. Das Bild Kohls wird trüber, man sieht nur noch die Mittel, aber nicht mehr den Zweck des Ganzen. 1989 in Bremen wollten Teile der Partei ihn zu Unrecht loswerden, nun aber, als neuen Bismarck, werden sie ihn nur noch in der Wahlniederlage von 1998 los, da ist es für die Partei fast zu spät. Beide Kohl-Biografien erzählen die Saga von Aufstieg, Triumph und Abstieg sine ira et studio. Helmut Kohl ist ferne Vergangenheit, er regt auch ehemalige "Spiegel"-Journalisten wie Bickerich und Noack nicht mehr auf. Gerechtigkeit zu üben, ist leichter geworden. Was in beiden Büchern etwas zu kurz kommt, sind die chaotischen ersten Regierungsjahre Kohls - Schreckenbergers Bermuda-Dreieck und die Wörner-Katastrophe.

Bei Schwan und Steininger stört außerdem die höchst überflüssige falsche Authentizität zu Beginn: "Als Helmut Kohl am 3. 4. 1930 zur Welt kam ... sendete Radio München ein Unterhaltungskonzert, der Berliner Rundfunk Chorgesänge und Radio Frankfurt ein Opernkonzert." Was, bitteschön, bedeutet das für das zukünftige Leben Kohls? Was für die Autoren einnimmt, ist die detailreiche diplomatische Geschichte der Wiedervereinigung. Nicht, dass es nicht bekannt gewesen wäre, wie sich Mitterrand und Thatcher verhielten, doch zusätzliche Aktenvermerke und Telefonprotokolle verstärken noch den Eindruck eines souveränen amerikanischen Präsidenten George Bush und eines hoffnungslos überforderten Michail Gorbatschow, der keinerlei Vorstellungen von der Zukunft Europas hatte und sich bis zuletzt nicht entscheiden konnte, ob das wiedervereinigte Deutschland in oder außerhalb der Nato nun besser für die russischen Interessen sei. Wie hat das Valentin Falin, der einstige Botschafter in Bonn, so treffend formuliert: "Ich habe gesehen, dass Gorbatschow alles in den Morast führt." Allerdings hätte sich auch Gorbatschow damals nicht vorstellen können, dass einmal Litauen, Lettland und Polen der Nato angehören würden. Der russische Ärger hierüber ist nach der Lektüre der damaligen Überlegungen, Absichten und Abmachungen nur allzu verständlich.

Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich: Helmut Kohl. Rowohlt, Berlin. 300 S., 19,95 Euro. Heribert

Schwan, Rolf Steininger: Helmut Kohl. Artemis & Winkler, Düsseldorf. 335 S., 19,90 Euro.



http://www.welt.de/die-welt/kultur/liter...konnt-sein.html

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