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Freiheitskämpfer oder Faschisten?

in -Letten-Forum- 07.04.2010 15:30
von es
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Jedes Jahr gedenken ehemalige SS-Legionäre in Lettland ihrer gefallenen Kameraden
Moskauer Deutsche Zeitung 2007-04-05
Autor: Nadja Cornelius
Foto: Reuters

Die Touristen trauten ihren Augen nicht: Wie jedes Jahr am 16. März marschierten auch 2007 wieder etwa 150 ehemalige lettische SS-Legionäre durch Rigas Innenstadt und legten am Freiheitsdenkmal Kränze nieder. Laut eigenem Bekunden gedenken sie ihrer im Zweiten Weltkrieg gefallenen Kameraden und dem Kampf gegen das Sowjetregime. Rechtsradikale Gruppen nutzen die Veranstaltung alljährlich als willkommene Bühne.



Der Gedenkmarsch wird international kritisiert. Auch die Meinung in der lettischen Bevölkerung ist gespalten. Besonders aber Vertreter der russischen Minderheit, etwa der Partei für „Menschenrechte in einem vereinten Lettland“ (PCTVL), demonstrierten an diesem Tag lautstark dagegen. Am Abend marschierten Anhänger der rechtsextremen Gruppe „Visu Latvijai” (Alles für Lettland) mit erhobenen Staatsflaggen zum Freiheitsdenkmal. „Lettland den Letten!“ skandierten einige — auch Zuschauer waren darunter. „Schande“ und „Faschisten“ schimpfte die russische Gegenseite. Etwa 500 Schaulustige waren versammelt.



Was genau bedeutet der alljährliche Aufmarsch der Veteranen? Ist es ein harmloses Treffen ehemaliger Soldaten, die nichts weiter im Sinn haben, als ihrer Kameraden zu gedenken? „Wir haben als Patrioten gegen die sowjetische Invasion gekämpft“, beteuert einer der Legionäre. Oder ist es doch eine jährliche Veranstaltung von Alt-Nazis, die ihre Überzeugung legal ausleben dürfen? Um zu verstehen, weshalb weite Teile der Bevölkerung den Marsch akzeptieren, ist ein Blick auf die lettische Geschichte notwendig.



Über Jahrhunderte stand Lettland im Spannungsfeld zweier Großmächte: Deutschlands und Russlands, später der Sowjetunion. Ab dem 13. Jahrhundert gab es im Baltikum eine deutschsprachige Oberschicht, die Deutschbalten, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein das wirtschaftliche und kulturelle Leben bestimmte. Auch die erste Besetzung Lettlands durch Russland Anfang des 18. Jahrhunderts änderte daran wenig. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Letten, sich gegen die äußere Unterdrückung zu wehren: Im November 1918 verkündeten sie ihre Unabhängigkeit.



Die neue Freiheit dauerte jedoch nur gut zwanzig Jahre. 1940 besetzte die Sowjetunion das Baltikum erneut. Es begann eine brutale Terrorherrschaft. Am 14. Juni 1941 wurden rund 15 000 Zivilisten nach Sibirien deportiert, teils in die Gulags. Im Vergleich zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern, in denen Menschen systematisch ermordet wurden, bediente man sich in den sowjetischen Gulags anderer Methoden: Die Häftlinge waren Bedingungen ausgeliefert, die ein Überleben in den meisten Fällen unmöglich machten.



Als im Sommer 1941 die deutsche Wehrmacht in Lettland einrückt, wird diese als Befreierarmee gefeiert, beendet sie doch den sowjetischen Terror. In der deutschen Armee sehen viele die einzige Möglichkeit, die lettische Heimat vor den Rotarmisten und einer erneuten Besatzung zu schützen. Über 100 000 Letten kämpfen auf Seiten der deutschen Truppen in verschiedenen Formationen gegen die Sowjetunion.



Die zeitweilige lettische Beteiligung in der deutschen Waffen-SS ist seit Jahren ein Streitpunkt unter Historikern. Gemessen an der Bevölkerungsgröße gab es in Lettland sehr viele Legionäre, die mobilisiert wurden, mehrere Zehntausend sollen es gewesen sein. Ist diese Tatsache ausschließlich mit dem lettischen Patriotismus und der Angst vor der Sowjetunion zu erklären?



Die Menschen seien so sehr vom sowjetischen Terror eingeschüchtert gewesen, dass sie sich nicht gegen die Mobilisierung zum Kampf auf deutscher Seite gewehrt hätten, erklärt der Leiter des Jüdischen Museums in Riga, Margers Vestermanis, der selbst durch seine Flucht aus einem Konzentrationslager nur knapp dem Holocaust entging. Nazi-Deutschland habe in Lettland damals die sowjetischen Okkupanten bekämpft. Es scheint ihm daher wahrscheinlich, dass für die meisten Letten die Unterstützung im Kampf gegen ihren Staatsfeind vorrangig war und nicht eine faschistische Überzeugung. Viele der SS-Veteranen betonen auch heute immer wieder, dass sie als Patrioten gegen die sowjetische Okkupation gekämpft hätten.



Zwar habe es unter den lettischen SS-Legionären kaum Freiwillige gegeben und sie seien nicht gleichberechtigt mit den Mitgliedern der SS oder der Waffen-SS gewesen, so Vestermanis. Jedoch — auch wenn es sich bloß um eine äußere Angleichung handelte — sei klar, dass die lettische Legion „unabhängig von persönlicher Überzeugung und gewollt oder nicht die zusammenbrechende deutsche Front gestützt und dem Hitler-Regime Waffenhilfe gewährt hat“, sagt der Historiker. Aus heutiger Perspektive sei es dennoch leicht zu sagen, die lettischen Legionäre hätten „in die Wälder gehen müssen“, mahnt er, der selbst nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager als Widerständler in den kurländischen Wäldern gelebt hat. Denn Regime-Gegner seien erschossen worden, zudem habe das Prinzip der Sippenhaft gegolten.



Er fügt jedoch auch hinzu, dass einer der baltischen Staaten die Situation anders gehandhabt habe: So seien die Litauer lediglich in den Schutzmannbataillons angetreten, die allgemeine Mobilmachung sabotierten sie jedoch. Hätte es auch in Lettland eine solche Massenbewegung gegeben, wäre es den Nationalsozialisten wahrscheinlich nicht möglich gewesen, den Willen eines ganzen Volkes zu brechen, vermutet der 1925 geborene Vestermanis. Das ist der wunde Punkt. Der Punkt, den viele Letten bis heute nicht gerne hören.



Die ehemaligen SS-Veteranen sind für manche Beobachter eine von Jahr zu Jahr kleiner werdende Gruppe alter Menschen, die friedlich durch die Altstadt zieht und anschließend zu Ehren ihrer gefallenen Kameraden Blumen am Freiheitsdenkmal niederlegt. Andere wiederum sprechen von einer „Verklärung der faschistischen Organisation“. Wie auch immer die Gedenkzeremonie zu bewerten ist, sie schadet dem internationalen Ansehen des Landes, das seit drei Jahren Mitglied der EU ist.



Der Holocaust-Überlebende Ves­termanis nimmt die Marschierer ein wenig gegen diese Kritik in Schutz. „Dass Kriegsveteranen ihrer gefallenen Kameraden gedenken, das ist doch ganz normal.“ Er fügt zwar hinzu, dass auch ihm dieser Aufmarsch nicht gefalle, aber „wenn man ehrlich ist, kann man bei diesen Veteranen nicht behaupten, dass sie Träger einer nationalsozialistischen Überzeugung sind“, so Vestermanis.



http://www.mdz-moskau.eu/print.php?date=1175784667&gid=4

zuletzt bearbeitet 07.04.2010 15:40 | nach oben springen

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