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So trieb die Regierung das einst boomende Lettland in die Krise

in -Letten-Forum- 06.09.2009 19:08
von Lette
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Noch muss Lettland den Staatsbankrott nicht ausrufen. Doch das osteuropäische Land hängt am Tropf von Weltbank und internationalem Währungsfonds. Mit brutalen Folgen für die lettische Bevölkerung. Von Brigitte Zingg (Foto: zvg) - 27.08.2009
Die Lettinnen und Letten sind fassungslos: Warum hat die Krise in ihrem Land so schnell und so heftig zugeschlagen?
Noch Anfang letzten Jahres meldete das Wirtschaftsamt Wachstumsraten von über zwölf Prozent, Politik und Wirtschaft sprachen deshalb mit unverhohlener Bewunderung von Europas baltischem «Tigerstaat».
Grund für den Aufschwung: Nach dem EU-Beitritt vor fünf Jahren witterten ausländische Investoren neue Absatzmärkte und pumpten Geld in das Land, vor allem in die Bau- und Immobilienbranche. Das viele Geld heizte den Konsum an, trieb die Löhne in die Höhe, aber auch die Inflation.
Bis zu 30 Prozent sind die Löhne in Lettland während des Booms gestiegen; in der Baubranche sogar bis zu 80 Prozent.

LEBE HEUTE, ZAHLE MORGEN Vor allem die skandinavischen Banken bedienten die neue Kaufkraft und boten Kredite zu Tiefstzinsen an. Viele Lettinnen und Letten packten zu und kauften sich eine Wohnung auf Pump. So wie Olja Petrova. Wegen der steigenden Immobilienpreise konnte die pensionierte Ingenieurin ihre Miete plötzlich nicht mehr bezahlen. «Das Kreditangebot war so günstig und kam im richtigen Moment. Ich konnte mir tatsächlich eine Wohnung kaufen», erzählt Petrova. «Doch dann kam die Krise, die Zinsen für den Kredit stiegen plötzlich. Und jetzt sitze ich mit einer kleinen Rente auf einem grossen Berg von Schulden.»
Olja Petrova ist nicht die Einzige: Fast sechzig Prozent der Lettinnen und Letten haben einen Kredit aufgenommen, meistens in Fremdwährung, hauptsächlich in Euro. Ein gewisser Nachholbedarf sei schon da gewesen, sagt die 62jährige Rentnerin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde Lettland nämlich von einer schlimmen Wirtschaftskrise erfasst und galt plötzlich als das Armenhaus Europas. Nach Jahren der Entbehrungen wünschte sich die Bevölkerung etwas Wohlstand, besonders was das Wohnen anging. Nicht selten hauste eine sechsköpfige Familie auf engstem Raum, in schäbigen Wohnungen und ohne Anschluss an die Kanalisation.
Die Nachfrage nach Wohnungen war deshalb in den letzten drei Jahren besonders gross. Und einfach zu befriedigen: Denn die Banken vergaben leichtfertig Kredite. Eine Fremdfinanzierung von hundert Prozent war beim Kauf einer Eigentumswohnung die Regel.
Die damalige Regierung liess die Banken gewähren. Dies, obschon bereits 2007 viele Immobilienkäufer ihren Kredit nicht mehr bezahlen konnten. Trotzdem heizte die Regierung die Krediteuphorie noch an. Denn sie war teilweise selber am Immobiliengeschäft beteiligt. Via TV-Werbung forderte sie Landwirte und andere Jungunternehmen auf, jetzt ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Ganz nach dem Motto: «Lebe heute, zahle morgen!»

GEWINN FÜR DIE OLIGARCHEN Architektinnen, Handwerker, Modedesignerinnen, alle folgten sie diesem Aufruf. Im Bauboom hagelte es Aufträge, Bauunternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch die lettischen Bäuerinnen und Bauern nahmen sich Kredite zu Tiefstpreisen in Millionenhöhe. Sie bauten Stall und Hof mit modernster Technologie aus, und alles lief gut. Doch dann brachen die Preise auch in der Landwirtschaft ein.
Für einen Liter Milch erhalte sie heute nur noch zwanzig Rappen, klagt Aneta Ivans. Vorher waren es siebzig gewesen. Die Kleinbäuerin begann vor fünfzehn Jahren mit drei Kühen. Heute hat sie siebzig Tiere im Stall. «Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben», meint sie lakonisch. Nun versucht Ivans mit Direktverkäufen über die Runden zu kommen. Weil sich die Kreditzinsen gleichzeitig mehr als verdoppelt haben, können viele Bauern sie nicht mehr begleichen und stehen vor dem Aus.
Die leichtfertige Kreditvergabe der Banken hatte noch andere gravierende Folgen: sie förderte die Spekulationsverkäufe in der Immobilienbranche, bescherte in- und ausländischen Oligarchen fette Gewinne und trieb die Wohnungspreise noch weiter in die Höhe. Umgerechnet 7000 Franken kostete der Quadratmeter an Rigas bester Lage zu Boomzeiten. Jetzt sind die Preise um mehr als die Hälfte gefallen.
Es sind diese Verluste, die die schwedischen Banken in Lettland beinahe in den Abgrund gerissen hätten. Doch Schweden eilte mit Staatsgeld zu Hilfe und garantierte die Einlagen der Kundschaft. Das hatte zur Folge, dass die Menschen in Lettland ihr Geld von der lettischen zur schwedischen Bank zügelten. Die grösste lettische Bank «Parexbank» stand kurz vor dem Zusammenbruch. Um diesen zu verhindern, wurde sie verstaatlicht. Doch die Verstaatlichung trieb wiederum Lettlands Schulden in die Höhe. Und zwar derart, dass nur noch der internationale Währungsfonds IWF mit einem Rettungspaket den totalen Zusammenbruch verhindern konnte. Heute steht Lettland vor dem Ruin.

WENIGER LOHN FÜRS PERSONAL Der Staatsbankrott ist vorerst zwar abgewendet. Anfang August haben der IWF, die Weltbank und die Europäische Union Lettland eine weitere Tranche von umgerechnet 300 Millionen Franken ihres Notkredits von insgesamt 7,5 Milliarden freigegeben. Damit ist Lettlands Zahlungsfähigkeit vorerst erhalten.
Allerdings zu einschneidenden Bedingungen: die Regierung muss die Staatsausgaben um mindestens vierzig Prozent kürzen.
Zur Kasse gebeten werden jetzt aber nicht die Spekulanten, zahlen soll die öffentliche Hand. Am schlimmsten trifft es den Sozialbereich und das Staatspersonal. Die Löhne der Lehrer, Krankenpflegerinnen, Ärztinnen und Polizisten werden ab September nochmals um zwanzig bis dreissig Prozent gekürzt. Ihre Renten von 120 auf 80 Euro gekürzt. Dies entgegen dem Wahlversprechen der Regierungspartei. Doch damit nicht genug: Im Herbst sollen Spitäler und Schulen in grossem Stil geschlossen werden. Die Arbeitslosigkeit, die schon jetzt über zwölf Prozent beträgt, wird nochmals drastisch steigen.
Es ist deshalb nicht auszuschliessen, dass es in Lettland im heissen Sparherbst erneut zu sozialen Unruhen kommt. Bereits im Februar hatten wütende Lettinnen und Letten so lange und heftig protestiert, dass die damalige Regierung den Hut nehmen musste.

Brigitte Zingg ist Auslandredaktorin von Schweizer Radio DRS

work, 27.08.2009

Qwelle: http://www.workzeitung.ch/tiki-read_article.php?articleId=993&topic=1

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